Thementage Lesen #1: Was ist Lesen?

“Was hast du vor dir, wenn du ein Buch aufschlägst? Kleine, schwarze Zeichen auf hellem Grunde. Du siehst sie an, und sie verwandeln sich in klingende Worte, die erzählen, schildern, belehren. In die Tiefen der Wissenschaft führen sie dich ein, enthüllen dir die Geheimnisse der Menschenseele, erwecken dein Mitgefühl, deine Entrüstung, deinen Hass, deine Begeisterung.

Sie vermögen dich in Märchenländer zu zaubern, Landschaften von wunderbaer Schönheit vor dir entstehen zu lassen, dich in die sengende Wüstenluft zu versetzen, in den starren Frost der Eisregionen. Das Werden und Vergehen der Welten vermögen sie dich kennen, die Unermesslichkeit des Alls dich ahnen zu lassen. Sie können dir Glauben und Mut und Hoffnung rauben, verstehen deine gemeinsten Leidenschaften zu wecken, deine niedrigsten Triebe als die vor allen berechtigten zu feiern. Sie können auch die gegenteiligen, die höchsten und edelsten Gedanken und Gefühle in dir zur Entfaltung bringen, dich zu großen Taten begeistern, die feinsten, dir selbst kaum bewußten Regungen deiner Seele in kraftvolles Schwingen versetzen.

Was können sie nicht, die kleinen schwarzen Zeichen, deren nur eine so geringe Anzahl ist, daß jeder einzelne von ihnen alle Augenblick wieder erscheinen muß, wenn ein ganzes gebildet werden soll, die sich selbst nie, sondern nur ihre Stellung zu der ihrer Kameraden verändern! Und hinter die Rätsel dieser Eigenschaft, die ihnen anhaftet, zu kommen, uns den Weg zu ihren Geheimnissen zu eröffnen wird einem Kinde zugemutet, und ein Kind vermag’s – wenn das nicht ein Wunder ist.” (Marie von Ebner-Eschenbach: Lesen ist ein Wunder. Sämtliche Werke, Bd. 4)

Wunderbare Worte einer Dramatikerin des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Sie fasst das kleine Wunder, dass wir jeden Tag vollbringen poetisch zusammen. Fragen wir Menschen aus anderen Disziplinen, so  erhalten wir naturgemäß andere Definitionen:

“Optische Reize werden auf die Netzhaut des Auges projiziert, so wie sie umgewandelt werden, um dann als ‘Hirnsprache’ in verschiedene Teile des Gehirns geschickt zu werden, so dass es schließlich zum bewussten Erkennen eines gelesenen Wortes kommt, wodurch dann neues Wissen entsteht oder bildhafte Vorstellungen in der Phantasie angeregt werden. Aus Daten, die physikalisch beschreibbar sind, werden neuronale Informationen im Gehirn, und aus diesen entfaltet sich auf einer weiteren, hierarchisch höheren Eben semantisches oder episodisches Wissen, also etwas, das sich sehr weit von der Ausgangsbasis entfernt hat.” (Ernst Pöppel: “Forschungen an der Schnittstelle Gehirn/Computer”)

Von Schönheit keine Spur, Psychologe Pöppel beschreibt hier grob den biologisch/physikalischen Vorgang des Lesens. Es wird ein Reiz aufgenommen, dieser wird verarbeitet und Wissen entsteht. Dies sollten wir alle nachvollziehen können, aber ist es wenig brauchbar für uns. Die Deutschdidaktiker haben erstaunlicherweise eine kurze und prägnante Version der Definition zu bieten:

“Lesen ist im engeren Sinne die Technik der Umsetzung sprachlicher Zeichen in Information. Im weiteren Sinne ist es das Verstehen als Grundlage der Textanalyse.” (Heiner Willenberg)

Damit kann man doch leicht etwas anfangen (komisch, es ist doch eine pädagogische Definition). Die Definition im engeren Sinne ist die Grundlage für die Lesedidaktik.

Warum ist das Lesen so wichtig?
Einerseits, weil es die Grundlage für den Prozess des Handels ist. Die Kette Lesen – Verstehen – Handeln wird von nicht-lesefähigen Personen nicht umgesetzt.
Andererseits, weil es die Grundlage an der Teilnahme im gesellschaftlichen Leben ist. Nun werden sogar Analphabeten nicht mehr eingebürgert, weil sie nicht an der Gesellschaft teilnehmen können.

Aber nicht nur Analphabetismus, sondern auch schlechte Lesefähigkeiten sind ein Problem, da sie den Schlüssel für andere Fähigkeiten bildet. Mehr dazu, wenn es um die PISA-Ergebnisse geht.

Dabei ist Lesen ein hochkomplexer Vorgang, der in Stufen abläuft und erlernt wird.
Die Stufen folgen im nächsten Teil der Thementage Lesen #2: Wie wird das Lesen erlernt?